Die Inspiration für ihre Graphic Novel IRMINA fand Barbara Yelin im Nachlass ihrer Großmutter – ein Karton mit Tagebüchern und Briefen, die von einem Leben erzählen, das nicht lief, wie es sollte. Oder geplant war. Oder sich erhofft wurde. Yelin hat die Figuren soweit verändert, wie dies für ihre Geschichte vonnöten war. Ebenso die Ereignisse, um der Dramatik des Geschehens gerechter zu werden.
Die ehrgeizige Irmina reist Mitte der 1930er Jahre nach London, um eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu beginnen. Dort lernt sie Howard aus der Karibik kennen, dem sie sich im Streben nach einem selbstbestimmten Leben verbunden fühlt. Durch den klugen und zielstrebigen Oxfordstudenten beginnt Irmina ihren Blick auf die Welt zu öffnen. Doch findet ihre Beziehung ein jähes Ende, als Irmina, bedrängt durch die politische Situation, nach Berlin zurückkehrt. Im nationalsozialistischen Deutschland steht sie vor der Möglichkeit, den erstrebten Wohlstand endlich zu erlangen, wenn sie dafür die verbrecherische Ideologie des Regimes nicht infrage stellt. Und die politischen Ereignisse eskalieren weiter und weiter.
Es ist ein faszinierendes Werk, das Yelin hier abgeliefert hat. Eines, das den Blick auf etwas wirft, das auch in der Forschung erst vor wenigen Jahrzehnten in den Fokus rückte: Die Frage, wie der „normale“ Deutsche im Regime funktionierte, es ermöglichte und sich einreden konnte, von nichts etwas gewusst zu haben.
Das betrachtet Yelin exemplarisch an der Figur Irina, einer jungen Frau, die davon träumt, jemand zu sein, die im Leben etwas erreichen will, die deswegen auch den mutigen Entschluss fasst, nach London zu gehen und sich dort gar verliebt. Aber hier geschieht der erste Bruch in ihrer Vita. Als die Widrigkeiten zu groß werden, kehrt sie nach Hause zurück. Zwar versucht sie noch über Jahre hinweg, nach London zurückzukehren, doch es klappt nie. Es ist das Leben, das sie hätte haben könnte, aber nicht bekam. Weil die „mutige Irmina“, wie ihr Freund Howard sie immer nannte, im entscheidenden Moment nicht mutig war – und es fürderhin auch nie mehr werden sollte.
Die Geschichte zeichnet das Bild einer Frau, die sich mit dem Regime arrangiert, die die Vorteile daraus zieht, die wegsieht, wenn Juden verschleppt werden, die weghört, wenn von Gräueltaten berichtet wird, die die Ideologie übernimmt, wenn sie ihrem kleinen Jungen auf die Frage, wer die Juden seien, antwortet: „Unser Unglück.“
Sie macht sich selbst nicht schuldig, aber vielleicht auch nur, weil sie sich dem Pöbel auf der Straße gegenüber erhaben fühlt? Weil sie aus altem Adelsgeschlecht kommt und sich für etwas Besseres hält? Weil Plündern aufgegebener jüdischer Geschäfte unter ihrer Würde ist? Die Graphic Novel lässt hier Raum zur Interpretation und ist doch ein tiefgreifendes Psychogramm einer Frau, die an ihrem Leben zerbricht. Sie, die etwas sein wollte, wurde im Dritten Reich dann „nur“ Hausfrau und Mutter. Und danach? Sekretärin in einer Schule, während ihr alter Freund Howard in seiner Heimat Barbados Karriere machte. Sie ist schon in den 40er Jahren verhärmt, und danach verstummt. Irmina spricht nicht über die Nazi-Zeit. Wie bei so vielen ihrer Generation geht von ihr ein immenses Schweigen aus, weswegen es sie umso mehr trifft, als sie als alte Frau im Jahr 1983 von der Tochter ihres ehemaligen Freundes Howard praktisch von allem freigesprochen wird, während die Nazis verteufelt werden. Aber auch Irina war ein Nazi – ein Nutznießer des Systems, eine Opportunistin, die versuchte, sich im Rahmengefüge des Dritten Reichs ihren Platz an der Sonne zu sichern.
IRMINA ist ein beeindruckender Comic-Roman, aufgeteilt in drei Kapitel – London vor dem Krieg, Berlin vor und während des Kriegs, und Barbados im Jahr 1983. Dabei wird das Leben einer Frau nachgezeichnet, die die falschen Entscheidungen traf und daran zerbrach. Wer sich je gefragt hat, wie das Dritte Reich möglich wurde, der findet hier Erklärungsansätze, weil man sich als Teil der Volksgemeinschaft damit arrangieren konnte – ja, so gar nutznießen konnte. Zugleich ist IRMINA eine beeindruckende Geschichte darüber, wie Menschen sich verbiegen lassen, wie sehr sie es vielleicht sogar wollen, und wie schmerzhaft zerstörte Illusionen sind, vor allem die, die man von sich selbst hatte. Vertiefend wirkt der aufschlussreiche Aufsatz des Historikers Dr. Alexander Korb, der am Ende des Buchs zu finden ist.